Tonalität im Raum
“Die Bilder, die ich jetzt gemalt habe, entstammen dem landschaftlichem Erleben, der Luft, dem Himmel, der Bewegung, dem Licht, der Dynamik – es ist eine innere Schau des Seins, so wie meine Menschenbilder eine innere Schau des Mensch-Seins sind”, schrieb Heliane Wiesauer-Reiterer Mitte der 1980er-Jahre in ihr Tagebuch. Ob angesichts der Weite des Wattenmeers an der Nordseeküste oder der alpinen Bergkulisse im Marmorsteinbruch von Krastal war und ist das Erleben von Natur für die malerisch und bildhauerisch arbeitende und denkende Künstlerin stets mit der Reflexion des eigenen Ichs, der menschlich-subjektiven Wahrnehmung verbunden. Indem sie dieses Innere – d.h. auch Emotionale, Authentische … – der Ich-Position reflektiert, gelangt sie zu einer Sicht bzw. Darstellungsweise des Äußeren, die auf das Wesentliche der Korrespondenz zwischen Innen- und Außenwelt gerichtet ist. Die bildnerische Formulierung dieses Wesentlichen unternimmt die Künstlerin über den doppelten Weg der Abstraktion der gesehenen Wirklichkeit hie und der Instrumentierung der unsichtbaren Psyche da. “Abstraktion” bedeutet dabei Konzentration auf die aus den Erscheinungen von Raum, Figur/Mensch oder Landschaft analytisch-beobachtend gewonnenen Parameter – wie z.B. Verhältnisse zwischen oben-unten, horizontal-vertikal, hell-dunkel, monochrom-polychrom, tragend-lastend, extern-intern, laut-leise, aktiv-passiv etc. Diese Form der Abstraktion von (gesehener/empfundener) Wirklichkeit zeitig sich in Wiesauer-Reiterers Werk in einer zur Geometrisierung der Formenvielfalt und zur Reduktion der Farbpalette tendierenden Bildauffassung, ohne dass diese je formal oder tonal-chromatisch rein konstruktiv gerät. Denn: die Instrumentalisierung des Inneren spielt immer mit mittels des Potenzials des „Offenen“, das sich in Irritationen geometrischer Strukturen ebenso äußert wie in der Freiheit des Pinsel- oder Zeichenstifts bzw. in der Behandlung von Stein-Oberflächen. “Hinter allem Linearen und Geraden lauert die Erregung”, charakterisierte Anton Gugg 2006 diesen Anteil des Emotionalen in Wiesauer-Reiterers prima vista aufs Minimalistische reduziert wirkenden malerischen und skulpturalen Formulierungen.
Tonalität im Raum bezeichnet als Ausstellungstitel dieses Spektrum an Möglichkeiten zwischen “wohltemperierter”“/konstruktiver Kompositorik und der Freiheit der Nebentöne und -klänge, die in der von Paul Klee einst als das “Zwischenreich” genannten Zone des Unsichtbaren angesiedelt sind. “Ich möchte in meinen Bildern etwas ganz Ursächliches ausdrücken, so als würde das Innerste herausgekehrt werden. Das, was für mich verbal nicht mehr formulierbar ist, sondern nur noch fühlbar und malbar ist”, sagt die Künstlerin, seit sie sich in großen Werkgruppen ab Mitte der 80er-Jahre mittels “reduktionistischem Vokabular und archaistischer Grammatik” (Anton Gugg) mit den Themen Mensch, Tier, Landschaft … sowie Raum, Teilung, Licht, Modulierung … beschäftigt. Tonalität im Raum beschreibt zugleich die “Tonigkeit”, derer sich Heliane Wiesauer-Reiterer bedient, um Himmel von Erde über die je standortabhängige Sicht des Horizonts zu trennen – und zugleich zu verbinden: “Sie wiegt mit dem Horizonterlebnis nicht nur die Schwärze gegen das Helle auf, sondern auch die Schattierungen der molekularen Ausgangspositionen an sich. Sie kann damit Schichten von Rot, Blau und Terrakotta, Erdfarbigkeit und Tonigkeit erzeugen, die gar keinen Zweifel am Sujet zulassen und manchmal durch ihre überhitzte plastische Farbigkeit zu winzigen Reliefs geraten.” (Manfred Wagner)
Das seit den 1970er-Jahren entstandene, von Anbeginn multimedial artikulierte künstlerische Werk von Heliane Wiesauer-Reiterer gelangt in der Ausstellung zur Darstellung, indem eine Auswahl ihrer wesentlichen Werkreihen, Themen und Techniken seit 1985 vertreten ist. Der für das Schaffen der Künstlerin charakteristische Verzicht auf die Etablierung eines formalen Personalstils zugunsten eines stets offenen Vor- und Zurückgreifens, Experimentierens und Umordnens … ermöglicht eine spannungsreiche Gegenüberstellung von zunächst heterogen erscheinenden Werkgruppen und -abschnitten, die in der summarischen Betrachtung durchaus einen sich durch das Œuvre ziehenden roten Faden zu erkennen geben.