Mut zur Avantgarde
Statement zur Podiumsdiskussion „Avantgarde – Epoche, Prinzip, Aktualität?“ im Rahmen der Wiener Vorlesungen am 21.10.2009
„Epoche – Prinzip – Aktualität“ – das sind die Stichworte der Wiener Vorlesung für dieses Gespräch zu Avantgarden. Ein idealer roter Faden, wie ich meine.
Der kunsthistorische Begriff Avantgarden bezeichnet zunächst neue und im Gegensatz zum herrschenden Kanon stehende künstlerische Bewegungen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Aber auch nach 1945 entstanden wesentliche und sehr unterschiedliche Avantgardebewegungen – Situationismus, Fluxus, Wiener Aktionismus, Informel, Happening, Serielle Musik, Expanded Cinema und viele andere mehr. Diese Strömungen hatten zwar immer den Anspruch des Internationalen, gingen jedoch von jeweils spezifischen Orten aus.
Auch im konservativen Wien der Nachkriegsjahrzehnte brachen verschiedene radikal neue und prägnante künstlerische Strömungen auf. Diese Wiener Avantgarden setzten – zusammen mit ähnlichen Entwicklungen in Graz und Innsbruck – einen entscheidenden ästhetischen und geistigen Neubeginn nach Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg. Sie begründeten die originäre kulturelle Substanz der 2. Republik.
Die Entnazifizierung in Österreich wird oft als unzureichend bezeichnet. Das hängt wesentlich damit zusammen, dass die geistigen und ästhetischen Grundlagen zunächst nicht wirklich umgestoßen wurden. Es waren die unverstandenen, abgelehnten, im Untergrund agierenden Kunstschaffenden, die neue Wege suchten – weg von Ideologien und hin zu essentiellen Werten wie Form, Farbe, Klang, Bewegung, Sprache, Wort, Medium, Kooperation, Internationalität. Es ging ihnen um Schaffen, um Tun. Wertschöpfung im heutigen kapitalistischen Verständnis interessierte die Protagonisten dieser Avantgarden damals – wenn überhaupt – nur peripher.
Trotzdem gelangten sie innerhalb weniger Jahrzehnte aus Außenseiterpositionen heraus zu internationaler Bedeutung. Eine Aufarbeitung ihrer Produktion in ihrem multidisziplinären Zusammenhang, ihrer gegenseitigen Beeinflussung und ihrem zeitgeschichtlichen Kontext gibt es jedoch bis heute nicht. Diese Aufarbeitung hat sich die Gruppe ViennAvant zum Ziel gesetzt.
Avantgarde – ein Epochenbegriff?
Was ist Avantgarde? Wir wissen: Avantgarde war ein militärischer Ausdruck für jenen Teil einer Truppe, der voranschritt, der sich dem Feind als erster entgegenstellte. Avantgarde impliziert also ein „Voraus-Sein“, etwas in die Zukunft Weisendes.
In einer Art „Ende der Geschichte“- bzw. „Ende der Kultur“-Mentalität hat die Kunstgeschichte diesen allgemeinen Begriff von Avantgarde historisch verortet. Eine Avantgarde jedoch, die vorbei ist, ist per definitionem ein Problem. Diese Begriffsproblematik hat ihre Parallele im Terminus der Moderne: Mit dem ursprünglich „gegenwärtig, neu, neuzeitlich“ bedeutenden Wort „modernus“ wurde ebenfalls eine Epoche bezeichnet, ohne zu bedenken, dass diesem Neuen auch etwas wiederum Neues folgen würde. Dafür behalf man sich dann mit der Zuschreibung Postmoderne, die heute allerdings auch schon allmählich alt aussieht.
Die Postmoderne hat sich sehr schnell über den Aufbruch der Nachkriegsavantgarden gelegt. Es wurde der „Tod des Subjekts“ gefeiert und alles war nur noch „Text“. Mit dem Tod des Subjekts kam jedoch auch der Tod der Verantwortung und dies passte perfekt zum Siegeszug von Beliebigkeit und Kommerz.
Als ich 2005 begann, die Gruppe ViennAvant zur Erforschung der Wiener Avantgarden aufzubauen, stand sofort die Frage nach der zeitlichen Verortung im Mittelpunkt unserer Debatten. Für welchen Zeitraum sind diese Wiener Avantgarden anzusetzen? Beginnt ihre Entwicklung wirklich bereits 1945? Oder erst 1951? Was war vorher? Und vor allem: Wann enden diese Avantgarden? Ab wann ist die künstlerische Produktion von Avantgardekünstlern und -künstlerinnen nicht mehr Avantgarde?
Ein Fazit aus der intensiven Beschäftigung der Gruppe ViennAvant mit diesen Fragen war: Avantgarde ist kein Epochenbegriff, ist auch kein Stilbegriff, sondern ist ein Diskursraum, der sich aus der Inklusion und Exklusion von Begriffen konstelliert. ViennAvant hat einen umfangreichen Katalog von Vorschlägen solcher Begriffe erarbeitet, den die Gruppe auch der breiteren scientific community zur Verfügung stellen wird.
Avantgarde als Prinzip
Der wesentlichste dieser Begriffe scheint mir der Aspekt der Überschreitung von Grenzen zu sein – der Grenzen zwischen Disziplinen, zwischen Orten und Akteuren, der Grenzen zwischen Kunst und Leben. Zwei Stichworte dazu: multidisziplinär und transdisziplinär.
Die Künstlerinnen und Künstler der Wiener Avantgarden waren nicht nur auf ihre Disziplin fixiert. Sie hatten sehr viel Austausch untereinander, sie kooperierten, sie drückten sich in unterschiedlichen Medien aus. Nicht nur die Wiener Avantgarden waren damals multidisziplinär unterwegs, ebenso waren es die Fluxus-Leute und die Situationisten. Auch unter den Künstlern der New York School der 50er und 60er Jahre gab es enge Kooperation zwischen Musikern, Bildenden Künstlern, Tänzern und Literaten. Robert Rauschenberg, Jackson Pollock, Philipp Guston, John Cage, Morton Feldman, Earle Brown, Christian Wolff, Merce Cunningham, Frank O’Hara, sie alle lebten und arbeiteten in enger Verbindung und entwickelten Neues, indem sie die Arbeitsweise ihrer Kollegen aus anderen Disziplinen beobachteten und reflektierten.
Das war schon so, als die Renaissance noch „Avantgarde“ war. Multidisziplinarität braucht es immer, wenn etwas wirklich Neues entstehen soll – auch neue und intensivere Interpretationen: Der große Pianist Arthur Schnabel gab seinen Schülern zu jeder Phrase einen kleinen Text. Für den 4. Satz der Schubert B-Dur-Klaviersonate DV 960 op.posthumus formulierte er für sie zum Beispiel „Ich weiß nicht, ob ich lache, ich weiß nicht, ob ich weine“. Kurz: Es geht um das Dritte, das entsteht, wenn sich das Eine mit dem Anderen paart, wenn eine Logik einer anderen wirklich begegnet.
Was aber meint nun transdisziplinär? Eine Schlüsselszene ist die Eröffnung der Hundsgruppe 1951: Der 22-jährige Arnulf Rainer, auf einer Leiter stehend, in einer Hand eine Säge, in der anderen Hand einen Hammer, von oben auf die verdutzten Anwesenden brüllend: „Ich spucke, ich spucke auf Euren verrotteten Kunstbegriff!“
Diesen Avantgarden ging es um das Niederreißen der Grenzen zwischen Kunst und Leben. Die Arbeit an dem großen Projekt ViennAvant zeigt, dass das nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Forschung wichtig wäre. Transdisziplinär heißt, dass zu den spezifischen Disziplinen noch etwas Weiteres dazukommt: Praxis, Alltagswissen, Erfahrung, Anbindung an die Lebenswirklichkeit. Die Kultur- und Geisteswissenschaften täten aus meiner Sicht in Hinblick auf ihre nötige gesellschaftliche Relevanz gut daran, stärker in diese Richtung zu gehen. Und die Kulturpolitik täte in Hinblick auf ihre Verantwortung für die Kultur, Bildung und auch Integration in der Gesellschaft gut daran, Transdisziplinarität zu fördern – was gegenwärtig kaum geschieht.
Zur Aktualität der (Wiener) Avantgarden
Die Frage nach der Aktualität schließt hier nahtlos an. Diese Wiener Avantgarden sind sehr aktuell, gerade in Hinblick auf den Hype von Kreativität und Innovation, der gegenwärtig vor allem verbal vorangetragen wird. Das Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie hat im „Europäischen Jahr der Kreativität und Innovation“ 2009 eine riesige Konferenz unter dem Titel Creating Innovation im Schloss Schönbrunn veranstaltet. Es wurden zwar modische kreative Sessions wie „Speed Tables” und „Pecha Kucha“ angeboten. Aber zwischen den institutionellen Akteuren und jenen, die sie zu adressieren vorgeben, gibt es keine Gesprächsbasis. Es gibt vielmehr rund um die Institutionen herum tiefe Gräben – wie seinerzeit um die schönen Wasserschlösser.
Kreativität, Innovation kann man nicht von oben herbei-veranstalten oder produzieren. Kreativität braucht die Begegnung und Auseinandersetzung auf Augenhöhe, den verhandelbaren Raum zwischen unterschiedlichen Ansätzen, Denkweisen, Begriffen, Parametern. Und genau das wird in der Überlagerung von Überbürokratisierung und totaler Ökonomisierung unmöglich.
Die ProtagonistInnen der Wiener Nachkriegsavantgarden und die Statthalter des damaligen Mainstreams hatten etwas gemeinsam: Den Akteuren beider Seiten ist es um etwas gegangen – nicht nur um Geld oder Positionen, sondern um Werte. Die konservativen Kräfte setzten viel Energie in das Unternehmen, Österreich auf kulturellem Gebiet zu einer Fortsetzung des Ständestaats zu machen. Die Schlüsselworte waren „erhaben, sauber, tüchtig“, ein sehr biederes Weltbild, an das die Leute aber glaubten. Gegen diese Atmosphäre der Beengtheit, der Rückwärtsgewandtheit, der Abschottung, begehrten junge Künstlerinnen und Künstler auf, denen es um ganz andere Werte ging. Sie hatten wohl einzelne Mentoren und Mentorinnen, die ihren Aufbruch förderten – Otto Mauer, Viktor Matejka, Lothar Knessl, Hans Landesmann, Stella Kadmon. Aber eine große gemeinsame kulturpolitische Anstrengung – wie zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland die Installierung der documenta im Jahr 1955 – gab es in Wien nicht. Man muss bedenken, dass damals Kassel noch teilweise in Trümmern lag. Trotzdem konnte Arnold Bode genug Unterstützung für das riesige Unterfangen finden, eine internationale Ausstellung zu organisieren, die nach den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur die deutsche Öffentlichkeit mit der internationalen Moderne und mit der eigenen gescheiterten Aufklärung konfrontieren und versöhnen sollte. Und diese documenta ist zu einer der weltweit am meisten beachteten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst geworden.
Das Studium der Wiener Avantgarden wäre sehr ergiebig. Man könnte Karriereforschung betreiben, untersuchen, wie es die Akteurinnen und Akteure der Wiener Avantgarden geschafft haben, innerhalb weniger Jahre von Provokateuren zu Künstlern von Weltrang aufzusteigen. Man könnte Umfeld und Randbedingungen untersuchen. Man könnte so manche Ideen aufnehmen und damit der Stadt Wien einen gewaltigen Modernisierungsschub geben.
Was ist hier damals alles geschehen! Ich denke nur an die „Stretta“ Peter Weibels von performativer Körperarbeit und politischem Aktivismus zu visionärer medialer Umsetzung. Ich denke an Maria Lassnig, an VALIE EXPORT, an Oswald Wiener, an Zünd up, ich denke an all das, was an architektonischen Ideen noch offen ist, was an filmischen Quantensprüngen hier entstanden ist, um nur einige Beispiele zu nennen. Und vieles (wenn nicht das meiste hiervon) ist weit davon entfernt, in der allgemeinen Rezeption präsent zu sein.
Warum gibt es die multidisziplinäre Aufarbeitung der Wiener Avantgarden – und damit ihre internationale Positionierung – wirklich noch nicht? Es ist der Mut zu großen Schritten, der in dieser Stadt fehlt. Und wenn solche Mutigen auftauchen, werden sie nicht unterstützt, sondern bekämpft. Wir haben nicht nur den ordinären, populistischen Rassismus, wir haben auch einen Rassismus der Eliten, die die beruhigende Gleichschaltung zu einer Monokultur anstreben. Das Neue, das allein Krisen überwinden kann, entsteht aber nur aus Heterogenität. Heterogenität ist mehr als die modische Behauptung von „diversity“. Heterogenität heißt, wirklich mit Verschiedenartigkeit umzugehen – und das verlangt die Überwindung der Abschottung von Schichten und Cliquen, es bedeutet, Konflikte auszutragen, in einem lebendigen Miteinander.
Wie kann heute Avantgarde aussehen, wurde gefragt. Kunst lebt im Spannungsfeld zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. So wie die Wiener Avantgarden die Befreiung von ideologischen Zwängen vorangetrieben haben, so erachte ich es heute für nötig, in der Kunst wieder integrative und gesellschaftsbildende Impulse zu setzen. Es hat einen großen Nachkriegsavantgardisten gegeben, dem ich mich in meiner Arbeit verpflichtet fühle: Joseph Beuys. Seine Utopien sind sehr schnell durch die ‚Individualisierung’ in Ich-AGs verdrängt worden. Aber die Idee der sozialen Skulptur, des Neuen, das entsteht, wenn unterschiedliche Menschen zusammenkommen, sich austauschen und kooperieren, ist aktueller und notwendiger denn je.
Avantgarde bedeutet, Mut zu Neuem zu haben. Heißt vor allem einmal Mut, für etwas zu stehen. Deshalb brauchen wir heute wieder Avantgarde – und nicht Creative Industries.
Helga Köcher