Klaus Neundlinger

Vom Wert der Kultur. Eine Reisenotiz

1. Ruinen, Verfall und Überreste multiethnischer Wirklichkeiten

Ruse, Bulgarien, 19. Oktober 2012. Ich stehe vor dem verfallenen Geburtshaus Elias Canettis. Auf Einladung des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa nehme ich an der dritten Ausgabe des „Flow Festival“ teil, eines Austauschs unter KünstlerInnen und WissenschafterInnen aus zehn Ländern Mittel- und Osteuropas, der diesmal unter dem Titel „Activating spaces, activating people by micro-imagination“ steht. In unterschiedlichen Workshops arbeiten die TeilnehmerInnen an Fragen, die mit der Verschiebung des Begriffs von Öffentlichkeit und Raum durch die neuen Medien zu tun haben, mit der Möglichkeit, Protest und Solidarität zu organisieren, mit der Frage nach Alternativen zum krisenbefallenen Wirtschaftssystem, aber auch nach der europäischen Identität und den mit ihr verbundenen Einschluss- und Ausschlussmechanismen, sowie mit der Infragestellung von überkommenen Wahrnehmungsmustern und der Entwicklung von neuen Formen der Imagination.

Ruse liegt an der Donau, an einer Stelle, über die eine der wenigen Brücken führt, die Bulgarien mit seinem Nachbarn Rumänien verbinden. Das ist kein Zufall, denn Ruse war über die Jahrhunderte eine offene, unterschiedliche Kulturen in Beziehung bringende Stadt; ein Handelszentrum und Knotenpunkt am Fluss, der das Osmanische Reich mit dem zaristischen Russland und der Habsburger Monarchie in Berührung brachte. In Canettis Kindheit waren dort viele verschiedene Kulturen präsent. Heute sind nur noch Überbleibsel davon zu erkennen. Es gibt neben orthodoxen auch katholische und evangelische Kirchenbauten und eine Moschee, doch die Minderheiten sind zahlenmäßig sehr klein. Die jüdische Gemeinde etwa, der der Schriftsteller angehörte, umfasst nicht viel mehr als hundert Familien. Wie das Geburtshaus Canettis zeugen auch andere Gebäude von der Schwierigkeit, das kulturelle Erbe aufrechtzuerhalten, geschweige denn, es zu erneuern bzw. kulturelle Akzente zu setzen. Der krisengeschüttelte und sich dennoch alles einverleibende Kapitalismus hat auch hier Einzug gehalten und das Ortsbild seinen Standards unterworfen: Im Zentrum finden sich die Kleidungsgeschäfte der mehr oder weniger bekannten Ketten, wie in allen anderen mittleren und großen Städten Europas. Daneben fallen wunderschöne Bauten, die noch aus der Habsburger Zeit stammen, langsam in sich zusammen.

2. Neukonfiguration der Räume: das Engagement für Öffentlichkeit und die Suche nach Alternativen

Das Kapital zeigt offenbar kein Interesse daran, Stätten wie das Canetti-Haus, jenes Gebäude, in dem der Großvater des Schriftstellers seinen Geschäften nachging, angemessen zu renovieren. Dort finden ja bloß Ausstellungen, Konzerte und andere Veranstaltungen statt, also Aktivitäten, die einem potenziellen Investor nur bedingt Profit einbringen würden. Eine entsprechende Investition rechnet sich offenbar nicht, weil sie eine langfristige Bindung darstellt und sich „bloß“ in kulturelles, vielleicht auch in Sozialkapital verwandeln würde. Die Globalisierung der Märkte stellt in dieser Hinsicht eine unglaubliche Verarmung dar, denn sie zerstört notwendigerweise jene Orte und territorialen Formationen, an denen sich einst gerade aufgrund der intensiven wirtschaftlichen Beziehungen eine große kulturelle Diversität konzentrierte.

Allerdings darf man sich keinen romantisierenden Bildern hingeben, denn auch in der Vergangenheit wurden Orte des wirtschaftlichen Austausches nach ebenso ökonomischen Gesetzen und Interessen konfiguriert. Und wenn politische Machtansprüche es „unumgänglich“ zu machen schienen, dann wurden auch diese Zentren der Diversität nicht von kriegerischen Handlungen und Raubzügen verschont. Trotz alledem deuten die Spuren einer vielsprachigen und multiethnischen Vergangenheit darauf hin, dass sich diese Realitäten über lange Zeiträume durchaus untereinander zu verständigen imstande waren.

Auch der Ort, an dem wir unsere Workshops abhalten, ist von Verfall und Zusammenbruch gekennzeichnet. Es handelt sich um ein Gebäude der „Hebros Banka“, einen völlig heruntergekommenen, aber reizvollen Bau, den herzurichten sich sicher lohnen würde und der sich momentan im Besitz der UniCredit befindet. Dem Vernehmen nach war das Gebäude, bevor es zum Sitz einer bulgarischen Bank wurde, ein Freudenhaus. So unterhalten wir uns an einem Ort, an dem die Frage nach der Käuflichkeit offensichtlich in all ihren Facetten durchgespielt wurde, über die Möglichkeit alternativer Ökonomie. Ist es möglich, die Krise zu überwinden, sich ihr zu entziehen? Oder unterwirft der globale Kapitalismus jegliche Differenz, jegliche Diversität früher oder später seinem Gesetz, verleibt sich das Innovative, Kreative der nicht-marktförmigen Tätigkeiten ein, um es mit einem Tauschwert zu versehen und so in eine Ware zu verwandeln?

Im Gespräch mit KünstlerInnen, SozialwissenschafterInnen, ArchitektInnen und KuratorInnen aus Cluj, Bukarest, Budapest, Novi Sad und Kiev erfahre ich an konkreten Beispielen, wie schwierig es in den „postkommunistischen“ Ländern ist, überhaupt Öffentlichkeit herzustellen. Die kapitalistische Übernahme der am Boden liegenden realsozialistischen Planwirtschaft vor zwanzig Jahren hat kaum Räume der Organisation von Bedürfnissen gelassen, die nachhaltige soziale und kulturelle Formen generieren würden. Und dennoch engagieren sich diese jungen Intellektuellen über ihre Sozialforschung, über ihre Arbeit in Museen, für Zeitschriften, über sozialen und politischen Aktivismus dafür, solche Räume der Mikro-Imagination von Differenzen, von Andersheit gegenüber dem Primat des Tauschwerts und der Unterstellung der universellen Käuflichkeit zu schaffen. Die Kraft, mit der sie sich für das Schaffen von öffentlichen Räumen und gesellschaftlicher Debatte einsetzen, hinterlässt bei mir einen nachhaltigen Eindruck.

3. Creative Class – Tätigkeit ohne Werk, Spiel ohne Partitur

Veza Canetti hat das Thema der Käuflichkeit und der Möglichkeit des Sich-Entziehens übrigens immer wieder thematisiert und mit großer Klarheit literarisch dargestellt. Sie hat am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, eine prekäre Existenz zu führen, vor allem in der Zeit des Exils in London. So muten ihre Texte manchmal an, als seien sie vor kurzem erst geschrieben worden. In dem Theaterstück Der Tiger. Ein Lustspiel im Alten Wien, das aus einer Episode der Gelben Straße hervorging, stehen zwei Frauen im Mittelpunkt des Geschehens, VertreterInnen der Creative Class, wie man heute sagen würde.

Es handelt sich um Andrea und Diana Sandoval, die Mutter Pianistin, die Tochter Bildhauerin, offensichtlich aus wohlhabenden Verhältnissen, mittlerweile aber so verarmt, dass sie große Teile ihrer Wohnung vermieten müssen. Einer ihrer Mieter ist Herr Zierhut, der mit viel Glück eine Stelle als Privatsekretär erhalten hat, sich in seiner neuen Arbeit aber ziemlich abrackern muss. Er muss dafür auch in Kauf nehmen, Dinge zu tun, die unter seiner Qualifikation liegen. Aus seiner Sicht bleibt ihm keine andere Wahl, denn: „Neunundzwanzig Bewerber lauern. Auf mein Versagen.“ So wird ihm selbst das Schleppen von Paketen zu einem performativen, beinahe künstlerischen Akt, der ihm alles abverlangt und für den er an seine physischen wie psychischen Grenzen geht.

Eine solche Aussage erinnert an die Arbeitssituation vieler Menschen heute, in einer Produktionsweise, in der es nicht mehr so sehr um das zu herzustellende Produkt geht, sondern um die Tätigkeit selbst. Wie Paolo Virno im Buch Grammatik der Multitude anlässlich seiner Kritik an der postfordistischen Ökonomie formuliert, verwandeln sich viele Arbeitende heute in ausführende KünstlerInnen. Sie arbeiten, als seien sie MusikerInnen oder SchauspielerInnen, mit dem wichtigen Unterschied, dass sie sich eben auf keinen vorgegebenen Text, keine festgelegte Partitur beziehen können, sondern nur auf ihr Vermögen, zu sprechen, Zeichen hervorzubringen. Dies führt viele in einen Zustand der Erschöpfung.

4. Entwertung des Wissens – Aufwertung der sozialen Produktion

Diana, die Tochter Andrea Sandovals, macht negative Erfahrungen im Versuch, mit ihren künstlerischen Fertigkeiten etwas zu verdienen. Sie stößt bei Angehörigen der besseren Gesellschaft, die potenzielle Abnehmer ihrer Skulpturen sind, auf eine Mischung aus Ignoranz und Eitelkeit. Ihre künstlerischen Ansprüche und damit auch ihre berufliche Identität werden so regelmäßig mit Füßen getreten. Wie schwer es für sie ist, ihre Tätigkeit vor absoluter Entwertung zu schützen, entnimmt man folgendem Dialog, in dem sie erzählt, wie sie bei einer Schauspielerin war, deren Portrait sie in Form einer Büste erstellen musste. Da diese aus Eitelkeit mit der Darstellung nicht zufrieden war, musste Diana die Büsten wieder zerstören:

„DIANA: … Dann hat sie gefragt, was ich für die Arbeit pro Stunde verlange, ich hab geantwortet, „ich bin kein Tagelöhner, ich habe zwei Köpfe modelliert“ – „Sie haben doch nur drei Stunden gearbeitet!“
SANDOVAL: Darauf bist du weggegangen.
DIANA: nickt.“

Welchen Wert hat künstlerische Tätigkeit? Welchen Wert hat es, sich kulturell zu engagieren? Ich stelle hier eine grundlegende Ambivalenz fest, die zu beobachten ist, wenn man über Kulturarbeit im heutigen Kapitalismus, im postfordistischen System nachdenkt. Einerseits gibt es tatsächlich nach wie vor das Phänomen der totalen Entwertung. Wie viele Arbeiten werden als selbstverständlich angenommen und gar nicht bzw. viel zu gering bezahlt? Andererseits löst, wie Yochai Benkler dies formuliert, die „soziale Produktion“, also das Zur-Verfügung-stellen der eigenen Kompetenzen, um etwas gemeinsam zu machen und nicht von vorneherein auf den eigenen Gewinn zu schauen, langsam aber sicher die Produktionsformen des industriellen Kapitalismus ab. Andernfalls wären Phänomene wie Open Source, Wikipedia usw. nicht denkbar.

Diese Phänomene betreffen das Herzstück unserer gesellschaftlichen Entwicklung, nämlich den Übergang zu einer auf Wissen und symbolischen Formen basierenden Ökonomie. Sie haben tatsächlich das Potenzial, sich zu maßgeblichen Alternativen zur gängigen Vorstellung von wirtschaftlichem Handeln zu entwickeln. Dazu schreibt Benkler in seinem Werk The Wealth of Networks folgendes: „I place at the core of the shift the technical and economic characteristics of computer networks and information. These provide the pivot for the shift toward radical decentralization of production. They underly the shift from an innovation environment dominated by proprietary, market-oriented action, to a world in which nonproprietary, non-market transactional frameworks play a large role alongside market production.“

5. Auf zu den Trümmern eines auf Eigentum basierenden Kapitalismus?

Man mag hinsichtlich der recht optimistischen Sicht Benklers in Bezug auf die Internet-Ökonomie Zweifel hegen, doch scheint mir, dass seine Analyse von dem Versuch getragen ist, das Umwälzende an den neuen Produktionsbedingungen konsequent durchzudenken. Meiner Meinung nach ist es deshalb wichtig, die oben angesprochene Ambivalenz nicht aufzulösen, sondern auszuhalten und ihre unterschiedlichen Konsequenzen im Blick zu behalten. Einerseits besteht immer noch die Gefahr der Entwertung des eigenen Handelns, die beschämende Geste, der man ausgesetzt ist, wenn man nicht markt-orientiert, markt-konform wirtschaftet. Dieser Art von Erniedrigung begegnet im Stück Der Tiger die Mutter, als eine Sängerin bei ihr auftaucht, die sie dazu verpflichten möchte, für sie vormittags immer eine Stunde zu korrepetieren. Dabei stellt sich heraus, dass die beiden nicht handelseins werden können, weil sie von unvereinbaren Standpunkten hinsichtlich des Wertes künstlerischer Arbeit ausgehen, was von Veza Canetti mit der ihr eigenen ironischen Schärfe in den folgenden Dialog ausgestaltet wird:

„SANDOVAL: Ich bin mir noch nicht im Klaren, was ich verlangen kann, ich hab noch nie eine derartige Arbeit gemacht. Dürft ich bitten, den Preis selbst zu bestimmen?
PASTA: Den Preis! Wenn Sie von Preis reden, das ändert die Sache! Dann kann ich Sie nicht brauchen, die Zeiten sind nicht danach! Ich dachte, Sie stellen sich der Kunst aus Begeisterung zur Verfügung!“

Andererseits könnte man sich aber auch vorstellen, dass die durch absolute Erhöhung erniedrigte kreative Arbeit sich immer mehr als anerkanntes Modell durchsetzt und auch entsprechende Regulierungsmechanismen für ihre Bezahlung entwickelt werden. Dies stellt Enzo Rullani als eine der zentralen Herausforderungen für eine nachhaltige Gestaltung der Wertschöpfung durch Wissen heraus. In diesem Sinne, denke ich weiter, während ich vor dem verfallenen Geburtshaus Canettis stehe, wäre eine Zukunft vorstellbar, in der Reisende nicht mehr vor den Trümmern einer durch den Kapitalismus zermalmten multiethnischen, vielsprachigen Gesellschaft stehen, sondern vor den Überresten einer Gesellschaft, die zu lange darauf bedacht war, das Recht auf Eigentum und die marktförmige Gestaltung der Beziehungen über jede andere Form des Umgangs miteinander zu stellen und somit alle anderen Weisen des Herstellens von Dingen und Zeichen systematisch zu entwerten.