Polipologik

Anmerkungen zur künstlerischen Denk- und Handlungsweise von Gertrude Moser-Wagner

Lucas Gehrmann

“We would be so happy you and me
No one there to tell us what to do
I’d like to be under the sea
In an octopus’ garden with you …”

Octopus’s Garden, komponiert von Ringo Starr (Starkey), erschien 1969 im elften Album der Beatles, Abbey Road, das zugleich ihr letztes gemeinsames Album war. Auch wenn wir noch heute der Melodie dieses Liedes gewahr werden können – z.B. als Klingelton auf unseren Mobiles1 –, ist der Oktopus als farbenfroher Hüter eines paradiesischen Unterwassergärtleins, in dem wir vor den Reglements und Oppressionen des Establishments Zuflucht suchen, aus den Mythologien unserer Tage weitgehend verschwunden. Der Oktopus als Metapher für ein dezentralisiertes erweitertes Bewusstsein, das in alle Bereiche des Seins seine Arme ausstreckt, musste sich als damals klassisches Trip-Symbol des LSD-Kults2 zurückziehen, nachdem dieser jede Salonfähigkeit verloren hatte – was Oktopus aber nicht weiter irritierte, versteht er doch seinen Garten wie auch sein Gewand seit Jahrtausenden dem Strömungswechsel der Zeiten stets anzupassen. So tauschte er gerade sein blumig-psychedelisches Outfit gegen das neueste kybernetische Zeitkleid, als ihn Roger Caillois auftauchen sah als „ein Beispiel für die Relais und Kreuzwege der Einbildungskraft“. Das war 1973. Zugleich erinnerten den Autor „sein kapuzenförmiger Kopf und die riesigen Augen […] an die als sadistisch verschrienen, in Kutten gehüllten Folterer einer geheimnisumwitterten Inquisition. Der Krake, dieses Hirntier, um nicht zu sagen, dieser Intellektuelle, beobachtet immerzu, während er agiert.“3

Sollte sich Oktopus nun mit dem Lorbeer des Poeten schmücken oder in die Kutte des bohrenden Psychologen schlüpfen? Als „Relais“ und „Hirntier“ bezeichnet, war Oktopus zugleich drauf und dran, sich den Mantel der Neurologie- und KI-ForscherInnen umzuhängen; als gleichermaßen titulierter Beobachter aber sah er sich auch im sehr zeitgemäßen Strom der Linie Heisenberg-Luhmann schwimmen und zugleich als unabkömmlich im noch bevorstehenden orwellschen Jahr. Orwells Prognose begann sich allerdings mit der Fortentwicklung der Video- und Gen-Technologie im Rahmen des “militärisch-industriell-akademischen Komplexes” (Robert Adrian X) schon als so realistisch abzuzeichnen, dass Oktopus an der inzwischen visionäreren Formulierung des Enthnobotanikers und Aldous-Huxley-Schülers Terence McKenna, die dieser ungefähr zeitgleich mit der Herausgabe von William Gibsons Neuromancer (1984, also im Orwell-Jahr) getätigt haben dürfte, stärker interessiert war – zitierte dieser doch in seinem Buch Food of the Gods den von Oktopus besonders geschätzten Evolutionsbiologen Martin Moynihan: “Unser Schicksal ist das eines Oktopus, nämlich zu werden, was wir denken, unsere Gedanken zu unserem Körper zu machen und unsere Körper zu Gedanken.”

Oktopus sah sich als Meister der Transformation und Simulation in seinem Element bestätigt und entdeckte zugleich seine Faszination für neue Technologien als unkontrollierbaren Motor der Menschheitsgeschichte. Zuletzt bestätigte ihn dabei auch William Gibson, in dessen jüngst erschienenem Roman Spook Country/Quellcode4 der Krake als ein Leitmotiv auftaucht für das allgegenwärtige Geflecht aus elektronischen Informationsströmen: „Mit ihren digitalen Tentakeln haben Google, Ebay, Blogs und Mobiles sämtliche Lebensbereiche durchdrungen, kartografiert, katalogisiert und verlinkt – aber auch in unzählige Paralleluniversen aufgeteilt. Das eigendynamische Datennetz ist hiermit um eine Dimension erweitert und steht nun mitten im Leben.“5

Spätestens hier kamen in Oktopus aber auch zweifelnde Gedanken auf: sind alle neuen Kleider, die die Menschen entwerfen, auf ihn, den souveränen Designer, Performer, Camouflage-Künstler und Körper-Akrobaten, übertragbar? Bleibt er, bei aller Verwandelbarkeit seines Äußeren und nötigenfalls auch seines Umfelds, nicht doch immer absolut identisch mit seinem eigenen Ich, während die Menschen in ihren Konstruktionen neuer Identitäten sich selbst zu verlieren scheinen? Das „eigendynamische Datennetz“ – es mag die Menschen fangen, die es zu flechten begonnen haben, aber mich fängt es nicht, sagt sich Oktopus und taucht vorsichtshalber für eine Weile ab.

Indessen kommt Gertrude Moser-Wagner ans Ufer des Tyrrhenischen Meeres, um mit Oktopus aka Pol(i)po Kontakt aufzunehmen. Als eine Künstlerin, die ihr bildnerisches Nervensystem stets mit den Sprachen der Wissenschaft, der Poesie und anderer Künste verschaltet und damit in sich ertragreiche Synapsenfeuerungen auslöst, sympathisiert sie mit einem so multitalentierten und kulturgeschichtlich polymorphen Wesen wie dem Oktopus, ersucht ihn um ein Videoportrait samt Interview und lässt seine (körper)sprachlichen Artikulationen sukzessiv von Fachleuten verschiedener Disziplinen übersetzen, interpretieren und auch ergänzen durch Sichtweisen anderer KünstlerInnen. Als ein Projekt namens POLIPOLOGO erweitert sich dieses somit zusehends, indem es gleichzeitig an verschiedene Präsentations-, Ausstellungs- und Diskurs-Orte reist.

„Räume im letzten Sinne sind symbolische Räume, in denen kulturelle Sehgewohnheiten, Lebensmaximen, die Mundarten alltäglichen Lebens und die Modelle wissenschaftlicher Erkenntnis der Welt ineinander greifen und sich gegenseitig interpretieren.“6 Diese Aussage des Kunstphilosophen Bernhard Lypp könnte als ein Leitgedanke erachtet werden, der sich durch Gertrude Moser-Wagners Werken und Agieren zieht. Indem die Künstlerin in diesen Räumen prozesshaft, kontextbezogen und kommunizierend arbeitet, ohne das Zugefallene (als „Realie“ wie auch im Sinne der Synapsenfeuerung) auszuklammern, kreiert sie im Verband mit anderen zugleich so etwas wie eine je poetische Skulptur, eine Gestalt und Form annehmende und damit auch sinnlich wahrnehmbare „polyglotte“ Aussage. Womit die symbolischen Räume als ihre Wirkungsstätten um neue Räume erweitert werden. Die Frage nach der Identität, die sich Oktopus zuvor angesichts aller Auflösung des Realen stellte, beantwortet die Künstlerin dabei praktisch wie von selbst: als navigierende und koordinierende Kybernautin bleibt sie immer auch ihre eigene „Zentrale“, die während ihrer Translokationen zugleich wahrnehmbare Spuren für andere hinterlässt, mittels derer die Künstlerin als Subjekt permanent (re-)objektivierbar, das heißt für sich und andere relativierbar wird.

„1964 bewies der Physiker John Bell mathematisch, dass die Realität grundsätzlich ‚nicht-lokal‘ sein muß; alle Dinge stehen, auch über weiteste kosmische Entfernungen hinweg, untereinander in unmittelbarer Wechselwirkung“, schreibt Matthias Bärmann7 in dem auch von Oktopus gern gelesenen Buch Erdrandbewohner. Als passionierter Single und ungeselliger Einzelgänger wirkt er für andere ja als eher am Rande lebend, was ihn allerdings nicht stört: Oktopus „begreift“ die Dinge für sich ganz allein so multiperspektivisch, dass er distanzierterer Relativierungen kaum bedarf, um seine Welt und sich als mittelpünktlich zu erfassen. Das Wissen, mit allem anderen zusätzlich in Wechselwirkung zu stehen, muss er sich als ein stets auf die Außenwelt Reagierender zwar nicht von Physikern vermitteln lassen, er sieht sich in seinem Oktopus-Sein aber gerne auch wissenschaftlich bestätigt …”

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1 Siehe z.B. www.oldielyrics.com/lyrics/the_beatles/octopuss_garden.html (7. 6. 08)
2 Vergl. Christian Rätsch, LSD-Artefakte. Das Unsichtbare sichtbar machen, in: Hartwin Rohde (Hg), Entheogene Blätter, Ausgabe 11, April 2003
3 Roger Caillois, Der Krake. Versuch über die Logik des Imaginativen, München: Hanser/Edition Akzente 1986
4 William Gibson, Quellcode (Spook Country; aus dem Amerikanischen von Stefanie Schaeffler), Stuttgart: Klett-Cotta 2008
5 Uh-Young Kim, Im Land des Daten-Kraken, in: Spiegel online Kultur, 22. März 2008
6 Bernhard Lypp, Der Körper der Schrift, in: I.K.U.D. Zeitschrift für Kunst und Designwissenschaften, Duisburg/Essen 2005, S. 18–27
7 Matthias Bärmann, Nichts vom Rand, dennoch bewohnt, in: Klaus G. Gaida (Hg.), Erdrandbewohner, Köln: Wienand 1995, S. 39